Von Stalin und dem perfekten Ton

Noch so ein geheimes Schmuckstück vom linken Niederrhein: Georg Sehrbrock alias Belgium liefert Soundtracks ohne Film. Aber die Elogen folgen sowieso noch weiter unten.

Wenn man die Begriffe „Belgium“ und „Georg Sehrbrock“ in eine Suchmaschine eingibt, dann stößt man als erstes auf das Foto eines antiken VW-Busses. Alte Autos sind nämlich die zweite Leidenschaft des 42-jährigen Mönchengladbachers. Die erste ist Musik - und da ganz speziell das Projekt „Belgium“, das Sehrbrock seit zehn Jahren begleitet.

Gerade ist auf dem Kölner artelier-Label das insgesamt fünfte Belgium-Album erschienen – und dass es ausgerechnet „Nachtfahrt“ heißt, könnte etwas mit der schon erwähnten zweiten Leidenschaft Sehrbrocks zu tun haben. Entstanden ist der Name auf der Autobahn im Ruhrgebiet, als die Stücke des Albums noch Titel brauchten und am Fenster bei Duisburg die hell erleuchteten Stahlwerke und Hafenanlagen vorbeizogen.

Und das passt zusammen. Denn „Nachtfahrt“ klingt wie ein Soundtrack, zu dem man sich den Film selber erfinden muss. Soundflächen, perkussive Grooves, die sich monoton wiederholen, dezente schwebende Melodien und über allem eine gewisse Melancholie – eben wie nachts bei Regen auf der Autobahn oder an einem eben so nassen Sonntagnachmittag, an dem man fröstelnd betrachtet, wie die Tropfen langsam die Scheibe herunterlaufen.

Das könnte Ambient sein à la Nightmares on Wax oder vielleicht Jazz, aber mit Einordnungen tut sich auch Sehrbrock selbst schwer: „Ich suche einen Ton, einen Sound, und nähere mich ihm langsam an“, beschreibt er. „Am Anfang habe ich keine Ahnung, was dabei herauskommt.“ So wie bei „28fortyone“ zum Beispiel: Das erste war ein gesampleter Tango-Rhythmus, den der „Belgium“-Protagonist verfremdet hat und der zudem noch rückwärts abläuft. Dazu kommt eine alte Aufnahme, auf der Josef Stalin vor den Gefahren des Nationalsozialismus warnt – und, um den politischen Ausgleich zu schaffen, Kurt Schumacher über das gleiche Thema spricht. An anderen Stellen hat Sehrbrock den Klang eines Handlaufs aus dem Treppenhaus einer Mönchengladbacher Schule eingesetzt, einen Kopierer oder seinen Schreibtischstuhl, auf dem irgendein Gast permanent quietschend herumrutschte.

Wenn der 42-Jährige das erzählt, klingt das erst einmal mehr skurril als musikalisch. Aber man muss nicht studiert haben, um die CD zu hören und Nachdenken muss man auch nicht – eigentlich nur die Augen schließen: alles klingt organisch, atmosphärisch und sehr aus einem Guss. Über die Jahre ist nicht ganz unbemerkt geblieben, was „Belgium“ ist und tut: Auf Sehrbrocks Website www.staticmusic.de, über die man „Nachtfahrt“ auch bestellen kann, finden sich Rezensionen aus dem USA und Frankreich und an der Westküste hat es eine ältere CD wohl sogar mal in die Ambient-Charts geschafft. Auch das neue Album ist in diesen Tagen in Frankreich erschienen und man ist gespannt auf die Resonanz – auch wenn klar ist, dass man bei dieser Art von Musik froh sein kann, wenn man am Ende plus-minus-null herauskommt.

So arbeitet Sehrbrock weiter als Lehrer an der Rheinischen Schule für Körperbehinderte, wo er auch mit einer aus seinen Schülern bestehenden Trommelgruppe arbeitet und Resultate erzielt, die komischerweise auch ein wenig nach „Belgium“ klingen. Ob er sich noch einmal, wie bei „Nachtfahrt“ geschehen, anderthalb Jahre ganz allein in seinem Studio einsperren wird, um erst ganz am Ende einige Freunde dazuzuholen, die dann noch ein wenig Gitarre, Trompete oder Saxophon beisteuern, weiß er nicht - das ganze war schon ein wenig autistisch.

Aber eins ist sicher: „Nachtfahrt“ ist eine Platte geworden, die sich sehr gut dazu eignet, darüber nachzudenken, dass jetzt bald wieder der Winter kommt oder dass man dringend einmal herausfinden sollte, wie es der längst vergangenen Jugendliebe eigentlich inzwischen geht. Georg Sehrbrock jedenfalls wird weitersuchen. Und vielleicht findet er ihn ja noch - den einen Ton, um den es wirklich geht.

 

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