Nur keine Eile

Der ewige Student - Plädoyer für einen Lebensentwurf

Wenn es jemals jemandem gelungen ist, konsequent gelebte Spießigkeit zur Kunstform zu erheben, dann war das Michael. Alles an Michael war irgendwie grau: Seine labberigen Stoffhosen mit Bügelfalte, seine Hemden, an deren Farbe man sich nicht mehr erinnern konnte, sobald er die Küche verlassen hatte. Seine Brote, die er mit Messer und Gabel zu sich nahm, umgeben von vier sorgsam um ihn herum aufgebauten Tupperdosen. Und irgendwie waren auch seine Haare grau, auch wenn das mit Ende zwanzig eigentlich nicht sein konnte.

Irgendwann haben wir Michael zum Sprecher unserer Wohnheimetage gewählt, weil er einfach schon am längsten da war. Am nächsten Tag hing eine in eine Klarsichthülle verpackte Bekanntmachung in der Dusche: „Zur Vermeidung der Schimmelbildung sind die Duschvorhänge nach Gebrauch zum Auslüften auseinanderzuziehen.“ Unterschrieben mit „Der Etagensprecher“.

Michael studierte Maschinenbau, so etwa im achtzehnten Semester. Jedem, der ihn fragte, erzählte er, dass er jetzt aber nun wirklich bald das Vordiplom in Angriff nehmen werde. Ansonsten verbrachte er sein Leben vor allem in seinem Zimmer, dessen elf Quadratmeter von etwa 20 000 CDs komplett ausgefüllt wurden. Michael verlieh niemals eine von ihnen.

War Michael glücklich? Schwer zu sagen. Aber auf jeden Fall hatte er seine Nische gefunden, sein Biotop, das es ihm erlaubte, seine exzentrische Art zu kultivieren, zu pflegen und zu höchster Blüte zu führen. Und damit war er der geheimen Funktion auf die Spur gekommen, die deutsche Universitäten schon seit langer Zeit innehaben: Ruhezone zu sein, Zeit zum Nachdenken zu geben, zum Ausprobieren – und nicht zuletzt auch Schutz zu bieten vor der Gefahr des Erwachsenwerdens.

Rund 30 Prozent der Studenten an deutschen Unis sind mehr als vier Semester über ihre Regelstudienzeit hinaus, schätzt der freie Zusammenschluß von Studierendenschaften fzs, der als Dachverband hochschulpolitischer Initiativen fungiert. Die Gründe dafür sind vielfältig, bei kaum jemandem fällt die Entscheidung bewusst. Hier mal eine Übung nicht abgegeben, da im Hochschulsystem die Orientierung verloren, nebenbei zu viel gearbeitet, das Interesse am gewählten Fach verloren – und wer es geschickt anstellt, kann es sich in seiner Nische durchaus bequem machen: Irgendwelche Jobs zum Geldverdienen lassen sich immer finden und das Leben in Berlin kann unglaublich billig sein, wenn man es geschickt anstellt.

Schließlich muss man nicht jeden Abend irgendwo zehn Euro Eintritt bezahlen, wenn es genug private Parties gibt. Und im Sommer ersetzen ein paar im Park genossene Biere aus der Dönerbude eine Menge teurerer Festivitäten. Dazu kommt, dass man sich in bester Gesellschaft befindet: Jeder hängt ab, jeder macht irgendwie Kunst, schreibt oder ist DJ, ohne dass irgendjemand wirklich davon leben kann. Wer Beweise dafür braucht, muss nur in den Tiergarten gehen und sehen, wie viele Leute Dienstags Nachmittags Zeit zum Fußballspielen haben.

Wäre man politisch, könnte man in der Situation sogar einen nicht abgesprochenen Streik gegen die gesellschaftlichen Umstände sehen: Warum sich beeilen, sein Studium zu Ende zu machen, wenn sowieso jeder fünfte Berliner arbeitslos ist? Warum Rentenversicherung bezahlen, wenn die Umstände so sind, dass in der U-Bahn inzwischen eigentlich die Rentner den Beitragszahlern ihre Plätze anbieten müssten? Warum sich in den Arbeitsmarkt kämpfen, wenn der letzte, der kommt, sowieso der erste ist, der wieder entlassen wird?

Übrigens ist es so, dass der gemeine Langzeitstudent dem Staat eher wenig auf der Tasche liegt. Man nutzt kaum noch universitäre Ressourcen und wenn, dann meist auch nicht mehr als andere Leute in zehn Semestern verbrauchen. Anspruch auf Sozialhilfe gibt es nicht, so lange man eingeschrieben ist, auch Arbeitslosengeld kommt kaum jemals in Betracht. Dafür zahlt man brav Sozialbeiträge und Einschreibegebühren, auch wenn man Bibliothek und Mensa zum letzten Mal vor Jahren gesehen hat.

Und Beispiele dafür, dass lange Studienzeiten durchaus konstruktive Ergebnisse bringen können, gibt es genug: Theo Lieven, Gründer der Computerkette Vobis, fing während seiner Uni-Zeit damit an, seinen Kommillitonen Taschenrechner zu verkaufen und behielt seinen Studentenausweis aus purer Sentimentalität auch noch, als er schon lange Konzernchef war. Auch Freund Marco studierte ewig ziellos das Fach, das schon sein Vater studiert hatte, bevor er zufällig an ein altes Wohnmobil geriet. Inzwischen chauffiert er mit fünf Reisebussen Bands durch Europa, hat Angestellte und ist perfekt im bürgerlichen Leben angekommen.

Und Michael, die graue Eminenz unserer Wohnheimetage? Irgendwann stellten seine Eltern die Zahlungen ein und er fand ein Quereinsteigerprogramm für Studienabbrecher. Heute arbeitet er bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.

 

 

Seitenanfang

Übersicht

 

     [ Home ]  [ Texte / Beiträge ]  [ Themen ]  [ Lebenslauf ]  [ Kontakt ]  [ Sitemap ]
             [ Print ]  [ Radio ]  [ Netz ]  [ Extras ]
     [ Menschen ] [ Musik ] [ Uni ] [ Motor ] [ Immobilien ] [ PC ] [ Netzwelt ] [ Vor Ort ]